Mittwoch, 17. April 2013

Was ist ein Menschenleben wert?

Offenbar hängt die Antwort auf diese Frage extrem davon ab, wo dieses Menschenleben stattfindet.

Von den Bombenanschlägen beim Boston Marathon haben wir alle mitbekommen und natürlich steht es außer Frage, dass es schrecklich ist, was dort passiert ist. Es sind drei Menschen gestorben, die Zahl der Opfer könnte sogar noch steigen und mehr als hundert sind teilweise schwer verletzt worden. All das nur, weil irgendwelche Spinner sinnlosen Bombenterror betrieben haben. Ob es sich dabei nun um einen Anschlag mit größerem Hintergrund handelt oder um kleine Fische, die großen Schaden anrichten wollten, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch keiner sicher sagen, aber realistisch betrachtet sprechen die Indizien (die Art der Bomben und die Tatsache, dass sich bisher keine große Terrororganisation damit gebrüstet hat) sicherlich eher für die zweite Variante. Für die Opfer wird es ohnehin keinen großen Unterschied machen, wer am Ende dafür verantwortlich ist und auch die Reaktionen der Menschen zwischen aufkeimender Angst und Trotz bzw. einem "Jetzt erst recht"-Gefühl wird es wenig beeinflussen, wer hinter den Anschlägen steckte, so lange keine weiteren zeitnah folgen, was wir alle hoffen wollen.

Es spricht also vieles dafür, dass diese Anschläge auf das Konto irgendwelcher Gestörten gehen, aber eben nicht dafür, dass Größeres dahinter steckt, wie eine neue, perfekt organisierte Terrorwelle von Al Quida, auch wenn man den Eindruck bei der Berichterstattung einiger Medien gewinnen könnte. Natürlich werden bei Anschlägen in den USA immer sofort Erinnerungen an den 11. September wach und das ist ja auch irgendwie verständlich, aber ich finde es ein Unding, wie hier in den Medien teilweise darüber berichtet wird. Würde man bei den nüchternen Fakten bleiben, wäre dieser Anschlag immer noch schlimm genug. Aber nein, es wird richtig aufgefahren. 
Nüchtern betrachtet könnte man sagen, es handelt sich um eine Massenveranstaltung und noch dazu um eine sehr populäre, also ist es für die Täter hier ein Leichtes, die Bomben zu platzieren und möglichst vielen Menschen Schaden zuzufügen. Gerade bei einem Marathon, wo in den Zuschauermassen quasi kaum Kontrollen möglich sind, noch weniger, als bei Sportevents in einer Halle oder einem Stadion. Der Boston Marathon gehört zu den Berühmtesten überhaupt und ist auch noch der Älteste, also schauen viele Menschen zu und auch wahrscheinlich noch vor dem Bildschirm, da macht es Sinn, die Bomben im Zielbereich zu platzieren, dort sind au jeden Fall viele Zuschauer und Kameras. 
Ich glaube, in dieser Weise werden es sich der oder die Täter gedacht haben. Man muss dafür nicht einmal besonders kreativ sein, selbst bei Rizzoli und Isles lief schon ein Anschlag (wenn dort auch die Opfer erschossen wurden) auf den Boston Marathon zur besten Sendezeit im Fernsehen. Und wahrscheinlich wird sich fast jeder, der schon einmal bei so einem Event mitgelaufen ist auch irgendwann einmal gefragt haben, was ist, wenn jetzt hier was passiert. Auf jeden Fall ging es mir vor zwei Jahren beim Köln Marathon so und es war schon für ein paar Sekunden ein beklemmendes Gefühl. Aber es ist eben so, bei solchen Veranstaltungen bietet sich ein Attentat an wie kaum wo sonst, weil es ein riesiges Gewusel ist und man unentdeckt sehr viele Menschen treffen kann. Schrecklich und hoffentlich findet die Sache keine Nachahmer.
Was ich sagen will - ich glaube nicht, dass der oder die Täter sich über viel mehr als die oben beschriebenen Sachen Gedanken gemacht haben. Wenn ich dann aber sehe, was die Medien daraus machen, könnte ich schreien und das ist es auch, was mich so aufregt und weshalb ich diesen Beitrag schreibe.

Da kommt RTL gestern in seinen Nachrichten mit einem 15 Minuten Bericht über die Ereignisse in Boston und macht u.a. Andeutungen darüber, dass Boston ja wie keine andere Stadt für die amerikanische Unabhängigkeit und Freiheit stünde und deswegen ein Anschlag in Boston Amerika fast genauso erschüttern würde wie seinerzeit auf die Twin Towers. Mal ganz abgesehen von den Ausmaßen der Anschläge hinkt diese Argumentation doch arg. Ich studiere Englisch und Geschichte, insofern ist mir die historische Bedeutung Bostons in der Geschichte der USA klar, aber selbst mit diesen Hintergrundkenntnissen finde ich die Argumentation ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Mal ganz abgesehen davon, dass ich zu behaupten wage, dass der Durchschnittsbürger, egal wo auf dieser Welt, wohl kaum direkt solche Assoziationen zu Boston hat, vermutlich ebenso wenig, wie der Attentäter sie hatte und deswegen das Ziel gewählt hat. Und selbst wenn der oder die Attentäter es gewusst hätten, so dürfte ihnen auch gewahr gewesen sein, dass die Mehrheit der Bevölkerung die Symbolik vermutlich nicht sieht, weil die geschichtliche Kenntnis fehlt. 
Die Twin Towers waren schon vor 9/11 auf der ganzen Welt bekannt und hatten einen Symbolwert, aber wie viele Menschen auf der Welt wüssten spontan etwas mit der Boston Tea Party anzufangen? Man könnte auch fragen wieviel Prozent der RTL-Zuschauer? Deswegen wurde das Wort auch gar nicht erwähnt, aber man betonte eben die Bedeutung Bostons und ließ alles so noch spektakulärer klingen. Anschließend wendete man sich solch wichtigen Fakten wie den Beleidsbekundungen von Prominenten und sonstigen Menschen über die sozialen Netzwerke zu. Schließlich ist es von existenzieller Bedeutung, wenn Boris Becker sein Beileid über Twitter bekundet und welche Worte er dafür wählt. Immerhin widmete sich RTL danach noch für wenige Sekunden dem Erdbeben im Iran, bevor es wie um die wirklich wichtigen Dinge im Leben ging und Ulrike von der Groeben mit dem Sport übernahm.

Jetzt könnte man sagen ok, was erwartet man von den Nachrichten bei RTL. 15 Minuten Boston, 1 Minute Erdbeben, Sport, Wetter, so ist eben RTL. Ich muss aber sagen, dass ich normalerweise die Nachrichten bei RTL gar nicht so übel finde und durchaus besser in mancher Hinsicht als beispielsweise die auf ZDF. Aber das ZDF ist öffentlich-rechtlich und hat somit einen Bildungsauftrag und ich erwartete in diesem Falle dort eine bessere Berichterstattung, weil zumindest die Zeit, die RTL in den Nachrichten für Facebook, Twitter und Co nutzte, hier sinnvoller vergeben werden konnte. Also schaltete ich um zu den Heute-Nachrichten und was soll ich sagen - Im Vorspann kamen die drei Hauptmeldungen: Thema 1 Boston, Thema 2 Rheinland-Pfalz kauft Steuer-CD, Thema 3 DFB-Pokal.
Die Sendung begann dann auch mit Boston, aber danach kamen neben den angekündigten beiden weiteren Themen noch ein paar andere Themen und erfreulicherweise wandte man sich auch dem Erdbeben zu, sogar einigermaßen ausführlich. Dennoch, man sollte auch die Aufmacher der Sendung im Hinterkopf behalten.

Worum es mir geht: In Boston sind bisher drei Menschen gestorben und über hundert teils schwer verletzt worden durch bisher unbekannte Attentäter, bei denen es sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach nicht um eine groß organisierte Terrorgruppe handelt. Die Medien sind voll davon und es finden sich teilweise die absurdesten Auswüchse, das Ausmaß bzw. die Bedeutung dramatischer zu gestalten, als sie ohnehin schon ist.

Es gab ein Erdbeben im Iran, an der Grenze zu Pakistan. Die Zahl der Toten und Verletzten ist noch unklar, weil das Gebiet teilweise schwer zugänglich, dünn besiedelt und ärmlich ist. Es gibt aber die grobe Zahl von 40 Toten und sicherlich wird es auch viele Verletzte geben, aber es gibt keine verlässlichen Zahlen. RTL ist das eine Kurzmeldung zwischen 15 Minuten Boston und dem Sport wert, das ZDF berichtet ausführlicher, aber sieht es offensichtlich nicht als so wichtig an, dass es eine Steuer-CD aus Rheinland-Pfalz oder den DFB-Pokal toppen könnte. Boston ohnehin nicht. Die Tagesschau habe ich leider später vor lauter Ärger vergessen zu gucken, aber ich erwarte nicht, dass das Beben dort eine größere Priorität hatte. Das liegt daran, dass vor einigen Monaten ein Erdbeben in Guatemala und den angrenzenden Ländern war, bei dem es mehr als dreißig Tote gab und das der Tagesschau, als ich morgens bei meinen Eltern beim Frühstück saß, ebenfalls nur einen Nebensatz, nach vielen anderen, "wichtigeren" Meldungen, wert war.

Ich finde es ein Unding! Ist das Leben dieser Menschen weniger wert? Warum wird über Naturkatastrophen in diesen Ländern kaum berichtet? Ich fand es gestern wirklich bezeichnend. In Boston war die Opferzahl nach allem, was wir bisher wissen deutlich geringer als bei dem Erdbeben und trotzdem wird ausführlichst über Boston und kaum über den Iran berichtet. Und wie gesagt, es ist kein Einzelfall, vor ein paar Monaten in Guatemala war es genauso.
Ich habe mich gestern gefragt, warum das so ist. Mein erster Gedanke (und auch der von einem Freund, mit dem ich später darüber diskutierte) war, dass es in Boston ein Terroranschlag war und im Iran eine Naturgewalt und dass Menschen vielleicht solche Anschläge als "bemerkenswerter" empfinden, weil man hier den Täter jagen kann, während man der Naturgewalt hilflos ausgeliefert ist. So könnte man argumentieren.
Aber dann macht mal zwei Gedankenexperimente:


1. Stellt Euch vor, es wäre umgekehrt gewesen. In den USA hätte es ein Erdbeben gegeben mit 40 Toten und unzähligen Verletzten und im Iran hätte jemand beim Teheran-Marathon zwei Bomben hochgejagt mit dem gleichen Ausmaß wie in Boston. Na, was wäre wie in den Nachrichten behandelt worden?

Wenn man es jetzt böse auf die Spitze treiben wollte, könnte man eventuell noch einen dieser Einwände à la "Aber dahinten sprengt sich ja auch ständig einer in die Luft..." dagegenhalten. Gut, dann Gedankenexperiment Nr. 2...

2. Stellt Euch vor, Boston wäre wie gehabt passiert, aber das Erdbeben wäre nicht im iranisch-pakistanischen Grenzgebiet gewesen, sondern beispielsweise in Italien. Wie hätten da gestern die Nachrichten ausgesehen?


Mich regt es einfach auf! Wie ego-/eurozentrisch kann man in seiner Berichterstattung eigentlich sein?
Natürlich muss man Schwerpunkte setzen und natürlich hat man nur eine bestimmte Zeit für die Nachrichten, das sehe ich auch alles. Aber ich finde das so respektlos gegenüber den Opfern dort. Sind deren Leben den weniger wert als die der Opfer von Boston? Oder als eine Steuer-CD aus Rheinland-Pfalz? Aus kapitalistischer Sicht ganz bestimmt, aber wenn bestimmte Regionen schon keine Rolle in der Weltwirtschaft spielen, heißt das doch nicht, dass sie deswegen auch in den Nachrichten vergessen werden dürfen.
Ich finde es fast schon widerlich und man sollte sich wirklich fragen, was für ein Signal man mit solch einer Berichterstattung bzw. Priorisierung sendet.

Die Zeit, die RTL genutzt hat, um Twitter-Nachrichten zu zitieren, hätten sie lieber genutzt, um ein Spendenkonto für die Erdbebenopfer zu nennen. Natürlich sind das in Boston alles schreckliche Schicksale, aber all diesen Menschen und ihren Angehörigen wird geholfen werden, weil die ganze Welt auf sie schaut und weil sie in den USA wohnen oder es sich leisten konnten, dort für einen Marathon hinzureisen.
Im Iran gibt es mindestens 40 Tote, möglicherweise sogar hunderte. Die Erdbebenregion ist voll mit kleinen Dörfern, die schwer zugänglich über Hügelketten und Täler hinweg verteilt liegen. Bis hier Hilfe für die Opfer eintrifft, wird es teilweise dauern, teilweise wird es vielleicht auch gar keine geben. Wäre Boris Becker gerade dort im Urlaub gewesen, sähe das sicherlich anders aus, zumindest in der deutschen Berichterstattung. Aber so, all eyes on Boston.

Vielleicht sollte sich unsere Gesellschaft wirklich mal überlegen, welches Signal sie aussendet. Sollten der oder die Attentäter aus den USA einen radikal-islamischen Hintergrund haben, so wird die Welt u.a. auch wieder nach Pakistan schauen. Dorthin, wo sie gerade erfolgreich wegschaut.   

1 Kommentar:

  1. Meine Liebe, auch in der Tagesschau sah die Berichterstattung nicht besser aus! Tröste Dich, es geht 1000en, vielleicht Millionen so wie Dir und mir. Diese einseitige Berichterstattung in den Medien, und dies täglich seit Mittwoch, kotzt mich regelrecht an. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Und ich denke auch nicht, dass es die Gesellschaft ist sondern eine Mediengeschichte. Wobei ich noch verstehen könnte, wenn ein italienisches Erdbeben uns näher wäre als eins im Iran. Aber darum ging s auch nicht. In FB hat sich Konstantin Wecker sehr diplomatisch und dennoch sehr deutlich ebenso zu dieser einseitigen Medienbehandlung geäußert. Innerhalb nicht einmal eines Tages waren mehr als 4000 Likes geklickt und 100e Kommentare in ähnlicher Richtung geschrieben! Meinen möchte ich hier auch hinkopieren: Ähnliches habe ich mich gestern auch gefragt, als ich die übermächtigen hochgepuschten Nachrichten überall, teils mit Sondersendungen, sah. Finde ich unmöglich. - Wieviele Kinder weltweit - besonders in Afrika aber auch in Asien - sind in dieser Zeit verhungert, weil Naturkatastrophen oder diktatorische Regierungen oder kriegerische Auseinandersetzungen und und und dies verhindern? Wieviele Krieger haben sich gegenseitig sinnlos umgebracht? Wieviele aberwitzige Anschläge in anderen Ländern haben unschuldige Menschen getötet? Wieviele Menschen sind Naturkatastrophen zum Opfer gefallen und werden nun in abgelegenen Gegenden gar nicht erst gerettet? Um nur einige Beispiele zu nennen! Nur weil die Kameras draufhalten und voyeuristisches Futter liefern, das ich persönlich nach 5 Min. gar nicht mehr sehen will, ist die Welt nicht wegen Amerika stehen geblieben! Auch wenn ich nicht in der Haut von einem zerfetzten Bombenopfer stecken möchte, nur die anderen sind leider genau so schlimm dran. Und vielleicht wars ja auch hier ein amerikanischer Einzeltäter-Vollidiot, wäre nicht das erste Mal! Was Guantanamo betrifft, finde ich es unter aller Würde. Was unterscheidet die Entscheidungsträger da von Nazis? Meiner Meinung nach nichts. Stell Dir mal vor, Du sitzt fest in einem Camp ohne jegliches rechtsstaatl. Urteil! Rein auf Verdacht! Sie sind doch nichts Besseres. ALLE Menschen tun mir leid, wenn sie zu Schaden kommen!

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